Folge 4
Die Fassade trügt: Die Umgangsformen waren teils weniger fein, als diese bürgerliche Kulisse der Hauptstraße (heute Schloßstraße) vermuten ließe.

Folge 4

Raue Sitten dringen bis nach Übersee

So manchem Zeitgenossen der Gegenwart mag die viel zitierte „Ellenbogen-Gesellschaft“ rauer denn je erscheinen, doch vor mehr als 100 Jahren herrschten derart unfreundliche Sitten, welche auch heutzutage die Justiz beschäftigen würden. Neben Mord und Totschlag waren Rufmord und Körperverletzung an der Tagesordnung. In einigen Fällen waren jene Umgangsformen auch würzige Zutaten für die Gerüchteküche der Bevölkerung und der Anzeigenteil einer Zeitung war bisweilen interessanter zu lesen als der redaktionelle Teil. Über Kapitalverbrechen im Klingenden Tal berichtete sogar die internationale Presse:

Die Gemeindezeitung Wien (Österreich –Ungarn) vom 2.10.1871 berichtet wie folgt:

„An Käse erstickt. (…)am 27.September saßen Nachts in der Schneider`schen Schänkwirtschaft zu Oberzwota bei Klingenthal mehrere Gäste beim Spielen zusammen. Einer derselben verlangte Quarkkäse zu essen und (dann) setzte die Wirthin einen Teller mit einem solchen auf den Tisch. Der Hauarbeiter Kehr aus Zwota langte sofort zu, ohne dazu aufgefordert zu sein, und steckte einen solchen Käse in den Mund. Ein anderer Gast ergriff nun ebenfalls schnell ein solcher Quarkkäse und steckte sie dem Kehr mit Gewalt in den Mund, worauf dieser dunkelrot im Gesicht wurde, eine Weile versuchte, Athem zu holen, dann aber todt umfiel. Die legale Sektion ergab, daß ein solcher Käse die Luftröhre verstopft und den Kehldeckel hinabgedrückt hatte. Das Gutachten der Aerzte lautet auf Tod durch Erstickung. Zwei Personen sind verhaftet worden.“

Auch die örtliche Gemeindezeitung, das „Wochenblatt für Klingenthal und Umgebung, sowie Anzeiger für Markneukirchen, Graslitz und Schöneck“ offenbart in seinem Anzeigenteil, welcher Umgangston um 1880 im Klingenden Tal herrschte. Jene Annoncen sind wie Schaufenster, in denen es viel zu sehen gibt: Die Warnung einer eifersüchtige Ehefrau vor dem unzüchtigen Verhalten einer Konkurrentin oder ein Elixier gegen Lustlosigkeit – Das Lesen von Anzeigen gleicht einem unterhaltsamen Roman, welcher vielsagende Einblicke in gesellschaftliche Normen des Alltagslebens, Umgangsformen und historische Ereignisse gibt.

Um 1850 setzte ein wahrer Boom von Tages- und Wochenzeitungen ein, denn in Zeiten der Kommunikation ohne Radio, Fernsehen oder gar Internet war ein wöchentliches Anzeigenblatt oft das einzige Mittel, eine große Anzahl von Menschen gleichzeitig zu erreichen. Zuallererst erschienen tatsächlich die gedruckten Bekanntmachungen von Familienereignissen, wie Geburten, Hochzeiten und Todesfällen, aber das Mitteilungsbedürfnis wuchs:

So mancher Anzeigeninhalt hätte heutzutage wohl ernsthafte juristische Folgen für seinen Verfasser: Das Auslegen von Tellereisen gegen nächtliche Holzdiebe etwa würde sicher als schwere Körperverletzung geahndet. Die Warnung vor unmoralischem Verhalten einer lebenslustigen Frau (mit genauer Personenbeschreibung), welche sich des Nachts in Wirtshäusern herumtreibt und den Männern schöne Augen macht, zöge im Heute wahrscheinlich eine Anzeige wegen Rufmords nach sich. Manches gibt dem unwissenden Leser Rätsel auf und war wohl nur für einen begrenzten Personenkreis bestimmt: „Ist es denn gestattet, in der Klingenthaler Feuerwehr als Zuschauer (passiv) einzutreten?“ oder auch die Anfrage „Sollen denn die Brunndöbraer Herren Gemeinde-Vorstands-Mitglieder leiden, was Ihnen am 17. d. Monats im Schlosser`schen Gasthofe durch eine Person gefragt wurde?“, wirft mehr Fragen als Antworten auf. Diese Anzeigen sind eher Zutaten für die Gerüchteküche, als von inhaltlichem Wert.

Von echtem Mord und Todschlag und sogar mit Klarnamen von Opfern und Tätern berichtete man sogar in Übersee, wie es etwa die in den USA erschienene „Indiana Tribune“ im Juli 1903 tat:

„Klingenthal: Der beim Spediteur Hoyer bedienstete Kutscher Dotzauer aus Markhausen wurde auf dem Nachhausewege von zwei Personen angerempelt. Es entspann sich ein Wortwechsel, in dessen Verlauf dem Kutscher 13 (!) Messerstiche beigebracht wurden. Als Thäter sind zwei Arbeiter namens Oswald Langhammer und dessen Vetter Franz Langhammer beide aus Schwaderbach, ermittelt worden. Dotzauer ist seinen Verletzungen erlegen.“

Neben der Auskunft über Moral- und Wertvorstellungen geben die Anzeigen aber auch einen Überblick  über soziale und wirtschaftliche Verhältnisse – die eher leisen Töne, welche von den Alltagssorgen der Menschen erzählen: – Wer würde sich heute noch für die Versteigerung von „Grummet“ interessieren – die zweite, im Spätsommer erfolgte Wiesenmahd war damals preiswerter zu erstehen als das „fette“ Heu des Sommers, reichte für die eigene Ziege jedoch allemal. In einer Zeit, als es noch keine Impfung gegen Keuchhusten und keine Antibiotika gegen Tuberkulose gab, sollten Mittel wie „L. W. Egers`schen Fenchelhonig“ Abhilfe schaffen. Doch die wöchentliche Liste der verstorbenen Kinder war fast genauso lang, wie die Liste der Neugeborenen. Hilflosigkeit und Armut ebneten den Weg für den Anzeigenerfolg von „Wunderheilern“. All das gab wohl schon damals wiederum genügend Stoff für neue Gerüchte im Klingenden Tal.

Überregionale Schlagzeilen von Mord und Totschlag in Klingenthal hat es lang nicht mehr gegeben, Berichte über grassierende Seuchen mit zahlreichen Toten wie etwa durch Cholera, Ruhr und Tuberkulose sind teils mehr als 100 Jahre her. Gerüchte, Fakenews und zwischenmenschliche Diskrepanzen werden heute auf digitalem Wege verbreitet. Geblieben sind das Interesse an besonderen Ereignissen, die Jagd nach dem Neusten vom Neuen und die Neugierde auf Alles, was die menschliche Seele bewegt.(XB)

Wochenblatt
Kopf des „Wochenblattes“: Der Name täuscht, denn das Blatt erschien nicht nur einmal pro Woche, sondern in unregelmäßigen Abständen alle 2-3 Tage.

Annoncen
Standesdünkel und Eifersüchteleien waren würzige Zutaten der Gerüchteküche.


 

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